Die Augen des Wolfs

Immer wieder blickte Siemen Rühaak dem Wolf tief in die Augen, hob den Vogelkäfig hoch, in dem überraschender Weise zwei Nachtigallen saßen, stand fasziniert vor den Flugblättern zur Nashorndame Clara und hielt das Publikum mit seinem Spiel und Sprechen im Bann: Die szenische Lesung „wild.zahm.gejagt.bestaunt“ mit dem aus Film und Hörfunk bekannten Schauspieler am 10. September im Museum am Schölerberg führte durch mehrere Jahrhunderte.

Tierschicksal

Wer schaut da auf wen? Der Mensch auf das Tier oder das Tier auf den Menschen? Was prägt den Blick des Menschen? Sie werden gern, bestes Beispiel ist der Hund, als Freunde des Menschen bezeichnet. Tiere wurden und werden gezähmt, dressiert und auf Kunststückchen getrimmt oder als Attraktion herumgezeigt. Das sind jedoch die noch harmloseren Varianten des (un)menschlichen Umgangs mit dem Tier. Zu einem großen Teil wurden und werden Tiere jedoch viel eher erbarmungslos ausgerottet als bestaunt; sie werden verwertet und ihr Lebensraum wird vernichtet.

Stumme Gesellen

Doch es waren in dieser Veranstaltung weniger die drastischen Momente als vielmehr die unterschiedlichsten Wahrnehmungen von Tieren, die Siemen Rühaak entlang der Textcollage von Jens Peters und Susanne Tauss auf die ‚Bühne‘ brachten. Und diese Bühne teilte er sich mit zahlreichen ‚ausgestopften‘ tierischen Kollegen. Auch dass das ‚Ausstopfen‘ heute durch den Begriff des ‚Präparierens‘ ersetzt ist, konnte man bei diesem Anlass im Übrigen lernen. Das Museum am Schölerberg, ebenso Partner dieses Vorhabens wie das Literaturbüro Westniedersachsen, stellte hierfür einige tierische Gesellen mit Glasaugen und zum Teil kuriosen Körperhaltungen zur Verfügung – darunter nicht nur einen milde blickende Wolf, sondern auch zwei tanzende Ratten oder einen schelmisch um die Ecke schauender Feldhamster.

Schädlich oder nützlich

In welchem Maße sich die Bewertung von Tieren im Laufe der Zeit verschieben konnte, wurde eindrücklich nicht nur am Wolf, der in der letzten Zeit wieder intensiv die Gemüter bewegt, sondern auch am Feldhamster: Beide galten (oder gelten) als gefährliche Nahrungskonkurrenten des Menschen – der eine mit Blick auf das Vieh, der andere als intensiver Sammler von großen Vorräten an Getreide und Hülsenfrüchten. Inzwischen ist der Hamster vom Aussterben bedroht, der Wolf gilt als gefährdet. Überhaupt waren diese knappen Zusatzinformationen aus der Artenschutzliste immer wieder aufschlussreich und gaben jeweils den Auftakt zu abwechslungsreichen Texten. Da reichte der Bogen von Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ bis hin zu 250 Jahre alten Lexikoneinträgen, von Justus-Möser-Briefen und Kleinanzeigen des 18. Jahrhunderts bis zu aktueller Lyrik und Prosa. Denn Tiere sind allgegenwärtig. Nicht zuletzt das aktuelle „Nature Writing“ trägt hierzu wieder in hohem Maße bei.

Vom Fiepen des Hamsters bis zum Grunzen des Pelikans

Den Gesamteindruck dieser bewegten und bewegenden Lesung prägte wesentlich der Sound, den der Musiker Udo Becker für die Texte komponierte. Da fiel dann auch mal ein Schuss, chinesische Klänge begleiteten das Andersen-Märchen von der Nachtigall. Oder Pelikan, Seehund und Nashorn ließen ihre wenig melodischen Stimmen hören. Sprache und Klang wurden zu einer Einheit, die dem ganzen Geschehen sowohl Leichtigkeit als auch Spannung gab. Siemen Rühaak spielte souverän mit Klang, Geheule und Gekrächze seiner tierischen Begleiter und bannte die Zuhörerinnen und Zuhörer durch sein ausgesprochen lebendiges Spiel.

Immer wieder reagierte das Publikum auf Überraschendes, so erregte es Heiterkeit, dass im 18. Jahrhundert beispielsweise Nachtigallen als Sprachlehrer für Kanarienvögel dienten und die „Jungfer Clara“, ein in ganz Europa herumgezeigtes zahmes Nashorn, gern „Bier soff“. Zu den sicher eindrücklichsten Gedichten gehörte ein Ausschnitt aus dem „Streit zwischen Mensch und Sperling“ von Margaret Cavendish, wo es heißt, der Mensch, der die Spatzen schon wegen winziger ‚Vergehen‘ jage, werde irgendwann selbst zu Tode kommen: „Durch viel zu vieles Essen bringen sie sich um.“ Geschrieben erstaunlicher Weise schon in den 1660er Jahren.

Ein leise fragendes Ende

Den Abschluss des Abends bildete der Blick auf den Menschen selbst. Er endete mit der nachdenklichen Frage, wie der Mensch sich eigentlich selbst wahrnimmt, wenn er auf das Tier oder das Tier auf ihn schaut. Es bleibe die Hoffnung, so hieß es, dass sich hier vielleicht etwas ändern möge. Die offene Frage blieb im Raum – ein leises Ende für eine erstaunlich inhaltsreiche und sowohl unterhaltende als auch informative Veranstaltung. Der langanhaltende Beifall zeigte, dass diese Gedanken nicht ungehört verhallten. Eine Veranstaltung jedenfalls, die nach Wiederholung ruft.