Der Saal - ein soziokultureller Ort und Spiegel ganzer Lebensläufe

Vom LVO angestoßenes Projekt kann dank umfangreicher Landesmittel an der Uni Vechta starten

„Das Parkett im Saal war grau geworden, wundgetanzt. Ein alter Boden wie ein Dorfchronist, man hatte hundert Jahre Brinkebüll in dieses Holz gestampft, die ganzen Lebensläufe: Kinderfest und Konfirmandenfeier, Abtanzball, Verlobung, Hochzeit, Richtfest, Silberhochzeit, sechzigster Geburtstag. Goldene Hochzeit, achtzigster Geburtstag. Ein paar letzte wackelige Tänze am Seniorennachmittag. Beerdigungskaffee.“

aus: Dörte Hansen, Mittagsstunde, Roman, 4. Auflage, München 2018, S. 64f.


Die Schriftstellerin Dörte Hansen beschreibt im Roman „Mittagsstunde“ eindrücklich, in welchem Maße Gasthaussäle das Leben auf dem Land besonders prägten und prägen. Das Spannende an diesem Alltagsphänomen ist, dass sich diese zentralen Orte des sozialen Miteinanders derzeit in einem tiefgreifenden Wandel befinden: Manche Säle verschwinden, doch andere erhalten neue Funktionen, werden umgenutzt, umgebaut, neu belebt. Es ist daher an der Zeit, dieses bedeutende Kulturgut ins Bewusstsein zu heben. Die Grundlagen dafür kann eine breit aufgestellte kulturwissenschaftliche Erforschung bieten; doch ein solches Vorhaben braucht Zeit und eine entsprechende Ausstattung. Und genau das ist jetzt gegeben: Das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur hat im Rahmen des Programms „Pro*Niedersachsen“ eine dreijährige Förderung mit insgesamt rund 250.000 Euro zugesagt, womit an der Universität Vechta, betreut von Frau Prof. Dr. Lina Franken, eine Doktorarbeit sowie eine langfristig nutzbare und ausbaufähige Datenbank zu ausgewählten Sälen des Osnabrücker Landes entstehen werden.

Wichtige Vorarbeiten des Landschaftsverbandes

Schon über mehrere Jahre hinweg hat der Landschaftsverband Osnabrücker Land e. V. (LVO) gemeinsam mit einer regionalen Arbeitsgruppe die Grundlagen für solch ein Vorhaben geschaffen. Denn hier ist man schon seit langem davon überzeugt, dass der Saalbetrieb ein höchst spannendes ländliches Phänomen sei, das zu dokumentieren und näher zu untersuchen ausgesprochen lohnend sein kann. So entstand, unterstützt vom Heimatbund Osnabrücker Land e. V., vom Kreisheimatbund Bersenbrück e. V. und vom Ansichtskartensammler Helmut Riecken, eine eindrückliche Übersichtsliste von Sälen. Wichtige Kriterien waren der Zusammenhang mit einer Gaststätte und das Vorhandensein einer Bühne, die einen Saal häufig erst zum attraktiven multifunktionalen Raum macht.

Ein Forschungsprojekt an der richtigen Stelle: Universität Vechta

Im Arbeitsbereich „Digital Humanities“ in den Kulturwissenschaften an der Universität Vechta werden nun, in enger Kooperation mit dem LVO, dem Museumsdorf Cloppenburg und dem Museum Industriekultur Osnabrück, in den kommenden drei Jahren insbesondere die Transformationsprozesse von Saalbetrieben untersucht.

Säle waren und sind soziokulturelle Hotspots: Hier wird gefeiert, getanzt, gesungen, Theater gespielt, der Verein versammelt, Politik gemacht oder der neueste Film gezeigt. Diese Anlässe sind zumeist denkwürdig und daher durch private oder auch offizielle Fotos dokumentiert sowie in den Medien kommuniziert. Der jeweilige Saal hat sich auf vielen Ebenen ins örtliche Gedächtnis eingeschrieben. So belegen ferner Ortschroniken und Fotoalben sowie zahlreiche weitere Überlieferungen, seien es Einrichtungsgegenstände, spezifische Architekturelemente, Menükarten, Geschirr oder Festprogramme die in Sälen gelebte Alltagskultur. Sie findet ihren Niederschlag nicht nur in materieller, sondern auch in immaterieller Überlieferung. Daher wird das Projekt mit einer großen Vielfalt unterschiedlichster Daten arbeiten, bei denen auch Interviews eine wichtige Rolle spielen. Weil all dies bislang noch kaum digital erfasst und zugänglich ist, werden die Forschungsergebnisse – etwa zum Vergleich der Entwicklung unterschiedlicher Säle und ihrer Nutzung – in einer Datenbank gesichert, die zugleich eine Schnittstelle zum Kulturerbe-Portal Niedersachsen erhalten wird.

Säle und die Transformation ländlicher Räume

„Die Kooperation mit dem Landschaftsverband Osnabrücker Land ist ausgesprochen gewinnbringend.“, sagt Professorin Dr. Lina Franken: „Dass die LVO-Geschäftsführerin, Dr. Susanne Tauss, mit dieser Projektidee an mich herangetreten ist, war ein absoluter Glücksfall. Das Thema ist hochaktuell, denn die Transformation ländlicher Räume ist akut und braucht dringend mehr Aufmerksamkeit.“ Auch die Saalbetriebe seien dafür ein zentraler Indikator: „Durch die Kombination unserer Wissensbestände um die lokalen Strukturen und die digitalen Möglichkeiten der Erforschung sind wir ideal aufgestellt“, so Lina Franken. Und Susanne Tauss ergänzt: „Die Landschaft der Saalbetriebe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gewandelt: Man feiert häufig individueller oder im Gegenteil gleich mit dem ganz großen Event. Daher stehen Gasthäuser mit Saalbetrieb oft nur noch wie verloren an der Landstraße, die Rollläden sind geschlossen, vor dem Eingang sammelt sich Laub. Oder der Bagger hat schon alles weggeräumt; es gibt kaum eine Woche, in der nicht von Schließungen oder Abrissen berichtet wird.“ Doch sie nennt auch viele positive Gegenbeispiele. Schließlich überdauern Säle oftmals Jahrhunderte, wenn sie regelmäßig aktuellen Anforderungen angepasst wurden, Familienbetriebe weitergeführt werden oder engagierte Vereine ohne Scheu vor großen Bauvorhaben Gasthaus und Saal zu einem Dorfgemeinschaftshaus umfunktionieren, wie dies derzeit mit dem Gasthaus Haarmeyer in Neuenkirchen im Hülsen geschieht.

Eine ideale Partnerschaft

Das Projektteam an der Universität Vechta aus den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Lucia Sunder-Plassmann M. A. und Sabina Mollenhauer M. A. unter der Leitung von Prof. Dr. Lina Franken beginnt im Oktober 2024 mit dem Projekt. Mit der breit angelegten Vorrecherche des LVO steht der Projektgruppe wertvolles Ausgangsmaterial und Überblickswissen zu den Sälen in der Region zur Verfügung; Susanne Tauss begleitet zudem das Projekt und bringt ihre regionale Vernetzung ein. Die Forschung konzentriert sich exemplarisch auf ausgewählte Saalbetriebe im Osnabrücker Land. Das Knowhow dafür bringt das Fach Kulturwissenschaft der Uni Vechta in Kombination mit den ‚Digital Humanities‘ mit. Betreut von Lina Franken entsteht im Rahmen des Projektes eine Doktorarbeit – ein lohnendes Unterfangen. Denn überraschender Weise wird damit eine wichtige Forschungslücke geschlossen, da Säle wurden bislang noch nicht in dieser Form systematisch beleuchtet wurden.

Auch der Vorstandsvorsitzende des LVO, Erster Stadtrat Wolfgang Beckermann, freut sich, dass das Projekt nun starten kann: „Saalbetriebe sind ein tolles Thema, und ich freue mich sehr, dass es dank der Projektidee des Landschaftsverbandes gelungen ist, sie nun modellhaft zu dokumentieren und weiter zu untersuchen. Die Universität Vechta ist hierfür mit den ‚Digital Humanities‘ in den Kulturwissenschaften und mit Frau Professorin Lina Franken ideal aufgestellt. Die Förderung durch das Land Niedersachsen ist ein großartiges Signal für unsere Region.“

Pilotprojekt mit spannenden Perspektiven

Und was hat die Region selbst davon? Positiv ist, dass das Osnabrücker Land nicht nur im Fokus eines Pilotprojektes steht, sondern mit vielen regionalen Partnern gemeinsam Saalbetriebe in den Blick nimmt. Langfristig kann und soll das natürlich auch zu einer neuen Sensibilisierung für dieses sehr besondere Kulturerbe führen.

„Darüber hinaus wollen wir mit einer modellhaften Erschließung für eine ausgewählte Region für ganz Niedersachsen Impulse geben, Saalbetriebe und damit zusammenhängende Transformationen im ländlichen Raum auch in weiteren Regionen zu untersuchen“, sagt Lina Franken. Doch das ist noch Zukunftsmusik. Zunächst gilt es, Kontakt mit den in Frage kommenden Betrieben aufzunehmen und schrittweise mit dem Sammeln und Forschen zu beginnen. Es wird spannend, dessen sind sich Franken, Beckermann und Tauss sicher, und sie freuen sich auf die Ergebnisse. Die Mittelzusage des Landes Niedersachsen gibt hierfür den nötigen Aufwind.

Weitere Informationen auf der Seite der Universität Vechta